Der russische Angriffskrieg hat die deutsche Öffentlichkeit unabweisbar dazu aufgefordert, den Raum dessen, was politisch denkbar ist, neu zu vermessen. Dabei wurde Deutschlands Vorstellung von seiner Rolle in der Welt in einer Weise erschüttert, die uns noch länger beschäftigen wird, schreibt Emanuel Herold in einem Gastbeitrag. Er ist Soziologe und Parlamentsreferent der grünen Bürgerschaftsfraktion in Bremen.
Der russische Einmarsch vor einem Jahr war ein ungeheuerliches Ereignis. Seitdem folgen auf erfolgreiche Verteidigungsmaßnahmen der Ukraine immer brutalere Offensiven der russischen Armee, wiederholte Teilmobilmachungen sowie Annexionsversuche samt begleitender Propagandaparaden in Moskau. Die jüngste Ankündigung Putins, das alles „sorgfältig und systematisch“ fortzuführen, fügt sich ins Bild. Wer behauptet, es sei eine Form vom Kriegstreibertum, das ukrainische Volk bei seiner Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg zu unterstützen, der verweigert sich grundlegenden Realitäten und betreibt eine befremdliche Täter-Opfer-Umkehr.
Wie sich die zerstörerische Bilanz dieses Kriegs entwickelt, verfolgen wir seit zwölf Monaten jeden Tag. Es ist nur schwer zu schätzen, wie viele Menschen bisher getötet und verletzt wurden. Mit jeder Woche droht die Liste der Kriegsverbrechen länger zu werden. Ukrainische Ortschaften, deren Namen der Welt unbekannt waren, sind nun synonym mit zerbombten Krankenhäusern, politischen Säuberungen, Vergewaltigungen und Folter – Butscha, Borodjanka, Irpin, Kramatorsk, Mariupol und weitere. Millionen wurden aus ihren Dörfern und Städten vertrieben und mussten fliehen.
Der Krieg hat nicht diese existenziellen, aber dennoch vielschichtige Folgen auch hierzulande. Er hat uns in Deutschland unabweisbar dazu aufgefordert, den Raum dessen, was politisch notwendig, geboten und überhaupt denkbar ist, neu zu vermessen. Die „Zeitenwende“ ist seit einem Jahr zum geflügelten Wort für diesen weitreichenden Prozess geworden. Mit Blick auf Energiepreise, Waffenlieferungen und Sondervermögen Bundeswehr stehen die energie- und rüstungspolitischen Auswirkungen für Deutschland oftmals im Vordergrund der Diskussion. Damit verbundene außenpolitische, wirtschaftliche und kulturelle Konsequenzen sind in ihrem endgültigen Ausmaß noch unklar. Jedoch werden wir ihrer Wucht allmählich gewahr. Es ist insbesondere der deutsche Blick auf die Welt, der seit dem 24. Februar 2022 nach Halt sucht – hinter dem Schlagwort Zeitenwende ist eine mitunter zähe und schmerzvolle „deutsche Erkenntniswende“ im Gange.
Wir haben leider nicht „die Staatengemeinschaft“ hinter uns
Da wäre zunächst die nach einem Jahr unbestreitbare Erkenntnis, dass die Ukraine und der sie unterstützende Westen keineswegs ungeteilte Zustimmung in der internationalen Gemeinschaft findet. Die Abstimmungsergebnisse in der UN-Vollversammlung, welche den russischen Angriff verurteilen, täuschen darüber hinweg, dass sich die übergroße Mehrheit der Staaten dem westlichen Sanktionskurs nicht angeschlossen hat. Wenngleich die westlichen Sanktionen der russischen Wirtschaft strukturell schaden und Teile der russischen Rüstungsindustrie erheblich beeinträchtigen, so bleibt die angekündigte „Lähmung“ des russischen Kriegsapparats leider aus. Dass der Iran dabei hilft, seine Expertise im Unterlaufen von Sanktionen mit Russland zu teilen, war zu erwarten. Dass China die ökonomische Rückversicherung für Putins Regime bildet, ebenfalls. Dass Staaten wie Indien, Südafrika oder Brasilien allerdings so deutlich auf Distanz bleiben, kann nicht länger ignoriert werden.
Eine Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine lässt sich nicht bequem daraus ableiten, dass Russland innerhalb kürzester Zeit zum Paria-Staat geworden wäre, der international isoliert ist. Stattdessen muss sich die Begründung weiter aus dem ableiten, was uns für eine stabile Ordnung zwischen den Staaten in Europa als unverzichtbar gilt: Die Verteidigung der Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen und der staatlichen Souveränität. Wer sie gewaltvoll aufkündigt, der zerstört das Fundament, auf dem ein dauerhafter Frieden auf diesem Kontinent überhaupt vorstellbar ist.
Die Energiewende verlangt Abhängigkeitsmanagement
Nord Stream 2 ist Geschichte. Das, was damit verknüpft war, bestimmt dennoch unsere Zukunft: Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom billigem Energieimport sowie die Fragilität und auch die Nicht-Unschuldigkeit der Energiewende. Habecks Verbeugung in Katar steht symbolisch für die Unmöglichkeit, die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit einfach hinter sich lassen zu können.
Bürde, Hypothek, Pfadabhängigkeit: All diese Begriffe kreisen um die Tatsache, dass Deutschland sich noch lange daran abarbeiten wird, sein Energiewendemodell wirtschaftlich zu retten. Es bleibt – aufgrund des Doppelausstiegs aus Kohle und Atom sowie des Verbots von Fracking zur Förderung unkonventioneller Gasverkommen – auf umfangreiche Gasimporte als Brückentechnologie angewiesen. Kein noch so schneller Ausbau der Erneuerbaren und Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft hebt diesen Umstand kurz- und mittelfristig auf. Anderes anzunehmen, leugnet die energiewirtschaftlichen Gegebenheiten. Der neue deutsche und europäische Hunger auf LNG liefert zudem eine Teilerklärung für die politische Zurückhaltung des Globalen Südens. Indem wir zahlungskräftige Europäer die LNG-Märkte leerkauften, haben wir im vergangenen Jahr unsere Stromausfälle in ärmere Länder exportiert. Aus diesen kritischen Nebenwirkungen unseres „Decouplings“ von Russland kommen wir so bald nicht heraus – gerade deswegen sollten wir uns ihrer bewusst sein.
Das gilt auch für unsere Angewiesenheit auf kritische Rohstoffe für die Energiewende, welche fossile Energiequellen obsolet machen soll. Da die Rohstoffe der Welt geografisch so verteilt sind, wie sie es sind, ist es auf absehbare Zeit unvermeidlich, sich weiterhin mit autoritären Regimen einzulassen. Der manchmal erklingende Ruf nach „Unabhängigkeit“ von Diktatoren oder Autokraten ist leider eine Illusion. Wir bleiben auf dem Weg in eine klimaneutrale Energiewirtschaft schmerzlich verstrickt in die verschiedenen Ausprägungen von Gewaltherrschaft, die es auf diesem Globus gibt.
Deutscher Blick auf Russland: Lukrative Selbsttäuschungen
In Zukunft dürfen florierende Wirtschaftsbeziehungen nicht mehr dazu führen, dass wir uns über diejenigen täuschen, mit denen wir Handel treiben. Wie nun rückblickend immer deutlicher wird, hat die Strategie „Wandel durch Handel“ weite Teile der politischen und wirtschaftlichen Eliten über lange Zeit geradezu zur Selbsttäuschung eingeladen. Denn wenn das Geschäft brummt, möchte man nur allzu gern auch Anzeichen von politischem Wandel sehen oder zumindest alles Gegenteilige ausblenden. Die Schwelle, ein Scheitern jener weithin akzeptierten Strategie einzugestehen, lag enorm hoch, wie wir am Beispiel unserer Beziehung zu Russland sehen. Die notorischen Einlassungen der deutschen Sozialdemokratie von Schröder bis Steinmeier sollten nicht davon ablenken, dass der Blick auf die politische Entwicklung Russlands unter Putin bei vielen Deutschen beschönigend war und leider noch immer ist. Putins Regime hat „antidemokratische Tendenzen“ und „autokratische Entwicklungen“ längst hinter sich gelassen und eine Mischung aus Polizeistaat und Kleptokratie etabliert, die nur die Bezeichnung einer konsolidierten Diktatur verdient. Werden Deutschlands Konzernführungen – und das Bundeskanzleramt – bereit sein, einen ähnlich nüchternen Blick auf die Verhältnisse in China zu werfen und daraus Konsequenzen zu ziehen?
Vielleicht müssen sie dafür lernen, mehr auf die Stimmen hören, die schon länger warnend zu uns sprachen. Das vergangene Jahr hat – insbesondere über die ungezählten aufschlussreichen Essays und Interviews von russischen Oppositionellen sowie internationalen Osteuropa-Experten – auch offengelegt, wie betrübend tief paternalistische und imperiale Denkmuster in der russischen Bevölkerung verwurzelt sind. Auch das müssen wir in Deutschland zur Kenntnis nehmen, wollen wir nicht erneut falschen Hoffnungen aufsitzen. Merkels Appeasement-Kurs nach der Krim-Annexion 2014 bleibt dafür eine dauerhafte Warnung.
Dass manche russische Intellektuelle in einer militärischen Niederlage Russlands die letzte Chance für einen baldigen Umbruch in ihrer Heimat sehen, gibt zu denken. Es bedeutet nämlich: Die russische Elite muss derzeit keine Angst vor demokratischen Kräften haben. Die Propaganda in den Medien, die Passivierung der Bevölkerung und die Macht des Sicherheitsapparats sind erdrückend. Auch nach Putin – wann immer das sein mag - wird Russland nicht einfach einen demokratischen Aufbruch erleben, sondern auf viele Jahre den Grundcharakter des Putinismus beibehalten. Damit scheint auch Russlands künftiges Verhältnis zum „kollektiven Westen“ in ernüchternder Weise vorgezeichnet.
Von Nutzen und Nachteil der Geschichte für die Bündnisfähigkeit
Warum man sich in Deutschland so umfassend über die jüngere Entwicklung Russlands getäuscht hat, ist nur zu erklären, wenn man auch jene Geschichten hinterfragt, die Deutsche bislang mehrheitlich z.B. über ihr Verhältnis zu Russland glaubten. Den daraus erwachsenden Fragen gilt es sich zu stellen: Überhöhen wir den historischen Beitrag, den die deutsche Ostpolitik zum Ende des Kalten Kriegs beigetragen hat? Unterschätzen wir nicht noch immer die Wucht des Widerstands in Osteuropa oder die atomare Drohkulisse der USA? Unterliegt in der deutschen Sichtweise noch immer eine Großmacht-Logik, die unsere osteuropäischen Nachbarn vor allem als Objekt betrachtet? Hinter diesen Fragen steht die naheliegende Vermutung, dass divergente historische Narrative – zwischen Deutschland einerseits und etwa Polen und den USA andererseits - auch den unterschiedlichen Reaktionsweisen auf den gegenwärtigen Krieg zugrunde liegen. Sie nicht zu reflektieren, hieße, dauerhafte Entfremdungen von unseren Nachbarn und Partnern fahrlässig in Kauf zu nehmen. Hieraus erwächst die Aufgabe, etablierte Geschichtsverständnisse zu hinterfragen, ohne aber bisher unbeachtetes vergangenes Leid für Zwecke der politischen Gegenwart zu instrumentalisieren. Eine schwierige Gratwanderung.
Dass der sog. „Erinnerungsweltmeister“ Deutschland im Formtief steckt, lässt sich darüber hinaus daran ablesen, mit welcher Schieflage deutsche Grausamkeiten an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs auf Russland bezogen werden und nicht beispielsweise auf die Ukraine oder Belarus. Hand aufs Herz: Wer hatte von Babyn Jar gehört, bevor dort im vergangenen Jahr Bomben fielen? Wenn der Anspruch deutscher Erinnerungskultur ist, der Opfer des Holocaust würdig zu gedenken, dann muss kritisch hinterfragt werden, warum ganze Landstriche Osteuropas in deutschen Köpfen Leerstellen sind. Werden im Kontext der Debatte um Panzerlieferungen etwa die Verbrechen der Wehrmacht in Russland angeführt, um gegen solche Lieferungen zu argumentieren, dann zeigt darin sich die Marginalisierung der historischen Schuld Deutschlands gegenüber der Ukraine auf markante Weise.
Eine deutsche Identitätskrise?
Man könnte die Liste dieser Problemstellungen weiter fortführen – etwa im Hinblick auf generelle Verdutztheit, mit der sowohl Bundesregierung als auch Opposition im letzten Jahr auf die massive Kritik unser europäischen Partner am „Doppel-Wumms“ reagiert haben. Als ob ausgerechnet Deutschland aus irgendeinem Grund gegen Wirtschaftsnationalismus immunisiert wäre.
Von der Corona-Pandemie hieß es oft, ihre Folgen wirkten wie ein Prisma und offenbarten die Missstände unserer Gesellschaft. Aus meiner Sicht lässt sich von einer ähnlichen Brechungswirkung des russischen Überfalls auf die Ukraine sprechen, nur dass das Licht nun teils auf andere Bereiche unserer Gesellschaft fällt. Die Diagnose einer deutschen Identitätskrise mag überzogen erscheinen, aber die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen der aktuellen Weltlage rauben mancher Gewissheit die Grundlage. Der Umgang mit diesen Folgen verlangt stattdessen ein Übermaß an individueller wie auch institutioneller Improvisation. Alles zusammen hinterlässt bei vielen Menschen tiefe Verunsicherung und nährt die Sehnsucht nach einer Normalität, die Beruhigung gewährt.
Es scheint, als gebe es keine Zeitenwende ohne Wendezeiten: Ausgedehnte Phasen der teils gewollten, teils erzwungenen Neuorientierungen, deren Ergebnisse am Ende wohl eher selten eindeutig sein werden. Vielleicht haben Teile der deutschen Gesellschaft zuletzt derartige Erschütterungen erlebt, als Anfang der 90er fünf neue Bundesländer der Bundesrepublik beitraten. Natürlich sind die Unterschiede dieser historischen Situationen erheblich – während heute etwa schon einige Monate darüber geschrieben wird, ob Deutschland womöglich eine Deindustrialisierung drohe, deindustrialisierte sich das Gebiet der ehemaligen DDR faktisch innerhalb einiger Monate.
Nichtsdestotrotz: Zusammengenommen mit den psychosozialen Aufreibungen der Pandemie geraten auch hierzulande politische Energien in Wallung, die idealerweise in kulturelle Lernprozesse, institutionelle Reformen und die ökonomische Transformation unseres Landes kanalisiert werden. Nicht zu unterschätzen ist aber die Gefahr, dass sie sich in Teilen dauerhaft zu reaktionären und rechtsoffenen Haltungen verhärten könnten. Der weitere Verlauf des Kriegs und des nächsten deutschen Winters sind ungewiss. Sicher ist nur, dass die seit Februar 2022 scharf hervorgetretenen Spannungen zwischen politischer Selbst- und Fremdwahrnehmung für die deutsche Öffentlichkeit nicht an Brisanz verlieren werden.